Rollenspiel kunstsoziologisch betrachtet – Interview mit Laura Flöter

Man muss sicher sagen, dass ein klassischer oder traditioneller Kunstbegriff mit „Rollenspiel als Kunstform (oder künstlerischer Tätigkeit)“ Schwierigkeiten hätte … – Laura Flöter

Wer Rollenspiel betreibt, erschafft einen Charakter und damit auch ein Werk, das künstlerische Merkmale aufweist. Dies wird aber von der Kunstszene nicht anerkannt – dennoch ist es eine „künstlerische Praxis“.

Laura Flöter (eigenes Bild)
Laura Flöter (eigenes Bild)

Warum es bisher und auch künftig keine Charakterbögen in Gallerien geben wird, erklärt die Kunstsoziologin Laura Flöter im Ausgespielt-Interview. Laura schreibt gerade ihre Dissertation zum Thema „Zusammenhang von ästhetischer Perzeption, Rollenspiel und Avatargestaltung“ und führt uns in die wissenschaftlichen Bereiche des Rollenspiels ein – und grenzt dies auch begrifflich von der ansonsten bekannten Rollenspieltheorie ab.

Show-Notes:

Bonus:

Lauras TOP-5-Literaturliste aus der akademischen Rollenspielforschung:

  • Herbrik, Regine: Die kommunikative Konstruktion imaginärer Welten. Wiesbaden, VS 2011
  • Mackay, Daniel: The Fantasy Role-Playing Game. A New Performing Art. Jefferson/ North Carolina u.a, McFarland 2001
  • Kahl, Ramona: Fantasy-Rollenspiele als szenische Darstellung von Lebensentwürfen. Eine tiefenhermeneutische Analyse. Marburg, Tectum 2007
  • Fine, Gary Alan: Shared Fantasy – Role-Playing Games as Social Worlds. Chicago u.a., The University of Chicago Press 2002 [1983]
  • Janus, Ulrich u. Janus, Ludwig [Hrsg.]: Abenteuer in anderen Welten. Fantasy-Rollenspiele: Geschichte, Bedeutung, Möglichkeiten. Gießen, Imago Psychosozial-Verlag 2007

28 Gedanken zu „Rollenspiel kunstsoziologisch betrachtet – Interview mit Laura Flöter“

  1. Sehr sehr informative Folge. Wenn ich es richtig verstehe, dann wird Rollenspiel in dem Moment von einer kunstnahen Tätigkeit zur Kunst, in dem jemand für z.B. einen Charakterhintergrund Geld bezahlt. Oder?

    Irgendwie kann mir beim hören die Idee, was wäre, wenn man eine künstlerische Aufführung veranstaltet, in der meinetwegen Shakespeare als Rollenspiel gezeigt wird. Also die Hauptfiguren werden mit Werten nach einem bestimmten Regelwerk versehen und von Spielern verkörpert. Den Rest verkörpert der SL und man orientiert sich an der Handlung des Originals, tendenziell aber eher locker. Das wäre dann ja sicher zumindest kunstnah, wenn man genügend Zuschauer gewinnt auch Kunst. Wie eine neu interpretierte Aufführung eines bekannte Werkes. Ob man dafür tatsächlich viele Besucher gewinnen kann?

    1. eine sehr coole idee von dir 🙂

      da ist mir gleich zu eingefallen: in einem der „knutepunkt“-bücher gibt es einen aufsatz über ein „hamlet-LARP“, frei (?) nach shakespeare, das könnte genau sowas sein, wie du meinst – ich weiß den titel leider grad nicht auswendig, weil für mich nicht so relevant, aber es gibt das ja alles zum freien download, und vielleicht weiß google da ja mehr ^^ wenn du dich da intensiver mit befassen willst, würd ich dir einfach vorschlagen, da mal reinzulesen!

      lieben gruß! laura

  2. Bin erst zur Hälfte durch, aber ja, da kam einiges interessantes zur Sprache.

    Am Anfang mußte ich jedoch kurz grinsen, als Ron fragte, ob Laura Indy-Rollenspiele kennt und die antwort kam, dass sie selbstverständlich Rollenspiele wie Savage Worlds, Fading Suns und PP&P kennt. Wundert mich, dass Ron da nicht nachgehakt hat, denn das sind ja alles keine Indyrollenspiele in keiner typischen Definition (also egal ob über Forge oder Verlagsunabhängig/Selbstvertrieb oder Kleinstverlag). Letztlich sind das ja alles klassische Rollenspiele, da kann man ja ruhig mal Fiasco, Western City, Barbaren! oder oder oder empfehlen. evtl. mal hier vorbeischauen: http://tanelorn.net/index.php?board=314.0

    1. Gut aufgepasst, Greifenklaue. 🙂

      Ja, mir ist natürlich bewusst, dass das keine Indie-Rollenspiele (egal nach welcher Definition) sind. Ich hatte mich aber spontan dagegen entschieden, an der Stelle nachzuhaken, da dies vermutlich vom eigentlichen Thema zu weit abgelenkt hätte und hier es um Laura und ihre Herangehensweise geht.

    2. hallo greifenklaue!

      ui, da hast du mich wohl kalt erwischt 🙂 toll, ich find’s super, wenn leute genau hinhören und ggf. berichtigen!

      aber, wie ich eben sagte, ich arbeite hauptsächlich mit den „klassikern“, kleinere oder indie-systeme lasse ich außen vor. nicht, weil ich sie prinzipiell nicht gut finde, sondern weil sie m.w.n. nicht grundsätzlich anders funktionieren – das würd ja heißen, sie wären keine rpgs im definitionssinne mehr – und, weil ich mich eben, wie gesagt, in dieser rpg-ecke kaum bis gar nicht auskenne bis auf ein paar namen. und darauf will ich keine bewertung in irgend einem sinne aufbauen, das ist dem rpg an sich einfach schon zu oft passiert – mit unerfreulichen folgen 😉

      ich würde mich aber über austausch in jedem falle sehr freuen!!! danke auch für den link, ich hab gleich mal ein wenig rumgestöbert ^^

      liebe grüße! laura

      1. Hallo! Vorweg, ich bin kein Indyverfechter und spiele diese Art Rollenspiele eher selten. Das interessante an Indyspielen (nach Forge-Definition bzw. solchen aus dem Umfeld der Forge) ist, dass sie nicht wie konventionelle Rollenspiele funktionieren. Zwei der genannten Namen haben z.B. keine Spielleiterlos, fast allen gemein ist eine sehr fokussierte Art des Spiels. Einige sagen zu Western City ja auch, dass es letztlich kein Rollenspiel ist. Das meinte ich dann auch, dass die Begegnung interessant werden könnte, egal ob alles beim alten bleibt, man den Definitionsbegriff erweitern muss oder ob man einige dieser Spiele tatsächlich nicht als Rollenspiele definieren kann. naja, ich bin gespannt, was daraus wird. Wo Du Florian berger erwähnt hast, der kennt sich imho ganz gut mit Indys aus, denk ich. Der kann bestimmt auch eher was dazu sagen, ob es in bezug auf deine Arbeit Sinn macht, in diese nische innerhalb der Nische Rollenspiel reinzuschauen.

      2. Laura schrieb:
        „aber, wie ich eben sagte, ich arbeite hauptsächlich mit den “klassikern”, kleinere oder indie-systeme lasse ich außen vor. nicht, weil ich sie prinzipiell nicht gut finde, sondern weil sie m.w.n. nicht grundsätzlich anders funktionieren – das würd ja heißen, sie wären keine rpgs im definitionssinne mehr“

        Das ist ja der Knackpunkt, sie funktionieren teilweise *völlig* anders (siehe meine längere Antwort unten).

        Ich würde trotzdem nicht sagen, dass sie keine „rpgs im definitionssinne“ sind, da man gerade aufgrund der gegenwärtigen Entwicklung inzwischen eine breitere Definition des Phänomens braucht, um dem Rollenspiel gerecht zu werden. Die Indy-Spiele beeinflussen inzwischen ja den „Mainstream“ und verschieben auch dort die Grenzen dessen, was Rollenspiel bedeutet. Zum Beispiel sind die verschiedenen Fate-Derivate (Malmsturm, Dresden Files etc.) m.E. inzwischen durchaus ein Teil des Mainstreams, so dass eine Einteilung in „klassisches“ und „Indy-Rollenspiel“ inzwischen nur mehr künstlich aufrechtzuerhalten ist.

        Liebe Grüße,
        nave in vista

  3. Interessante Diskussion, wobei ich den Vortrag auf dem Nordcon noch deutlich umfassender fand.
    Allerdings haben sich bei mir ein paar Fragen ergeben:
    1) Zunächst mal wundert es mich als Naturwissenschaftler, warum so viel mit Wertung gearbeitet, wo es um Faktenfragen geht. Entweder sind Rollenspiele Eskapismus oder eben nicht. Doch wenn sie es sind, sagt das noch nichts über ihre Qualität aus. Zu behaupten, sie seien schlecht, weil sie Eskapismus seien, wäre ein petitio principii, weil es nicht evident ist, warum Eskapismus schlecht sein soll. Genauso ist jedoch die Behauptung, Rollenspiel könne kein Eskapismus sein, weil das dann schlecht wäre, ein argumentum ad consequentiam und damit ebenso unsinnig wie der Verwurf an Kritiker, sie wollten mit dem Begriff Eskapismus etwas nur als unwichtig abtun (argumentum ad hominem).
    Ich bin also verwirrt…

    2) Dann ist mir unklar, wieso etwas nur zum Kunstwerk wird, wenn es geplant erstellt wurde. Triviales Gedankenexperiment: Ein Affe, der auf einer Schreibmaschine herumtippt, wird bei hinreichend langer Beobachtungszeit alle Werke Shakespeares schreiben. Ein solches (natürlich rein hypothetisches) Drama wäre in jedem einzelnen Buchstaben identisch mit dem, das Shakespeare bewusst geschrieben hat. Wenn das vom Dichter Kunst sein soll und das des Affen nicht, dann hat einer von uns beiden nicht verstanden, was es überhaupt gedeutet, dass zwei Texte gleich sind. (Wäre möglich, dass ich das bin, schließlich ist das nicht mein Fach.)

    3) Richtig verwirrt hat mich die Frage, ob man nach der Beschäftigung mit solchen Fragen das Spiel noch genießen könne. Dazu einfach nur ein xkcd-Comic: http://xkcd.com/877/

  4. Ich würde für die sogenannte Rollenspieltheorie eine Lanze brechen wollen. Sie ist ebenfalls ein Versuch zu verstehen, was Rollenspiel ist und was zwischen den Spielern stattfindet. Die verschiedenen Ansätze machen auch Aussagen, die überprüft und kritisiert werden können, sind einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung also durchaus zugänglich. Man kann sogar die Weiterentwicklung der Theorien beobachten. Ich denke es sollte klar sein, dass auch Laien wissenschaftliche Arbeit (Sammlung von Beobachtungen, Beschreibung, Theoriebildung) leisten können, unabhängig von der Existenz einer akademischen Rollenspielforschung.

    Außerdem glaube ich, Laura könnte bei den Indiespielen durchaus einige interessante Aspekte für ihre wissenschaftliche Arbeit finden. Diese neuen Spielsysteme sind nämlich überwiegend entstanden um den sogenannten narrativistischen Stil zu unterstützen. Das heißt genau die schöpferischen Aspekte des Rollenspiels, die man vielleicht als „künstlerische Praxis“ bezeichnen kann. Viele Indiespiele wurden so angelegt, dass die Spieler intensiver an der erzählerischen Gestaltung beteiligt werden oder dass die Charaktere in Konflikte gesetzt werden, die ein dramatischeres Spielgeschehen vorantreiben. In Bezug auf Avatargestaltung ist es vielleicht ganz interessant, dass die Bindung an den Spielercharakter in Indiespielen meiner Einschätzung nach schwächer wird. Sie werden mehr als erzählerisches Vehikel gebraucht, denn als Repräsentant des Spielers. Das klassisch eher explorative Vorgehen („was sehe ich, wenn ich nach unten schaue“) kann zum Beispiel durch regeltechnische erlaubte Gestaltung durch Wahrnehmung ersetzt sein („ich schaue nach unten und sehe eine Gruppe Zwerge“). Die Identifikation mit dem Charakter, seine „Avatarhaftigkeit“ nimmt dadurch ab.

    Nebenbei Simulationismus versus Narrativismus erinnert mich ein bisschen an den Gegensatz zwischen dem Realismus und seinen modernen Ausformungen und anderen Stilrichtungen der Kunst. 😀

    Noch ein Verweis auf eine Sammlung von unter anderem wissenschaftlichen Arbeiten zum Rollenspiel: http://www.rpgstudies.net

    Zumindestens die Soziologie scheint sich demnach schon länger mit dem Phänomen auseinanderzusetzen. Zweifellos wegen der Kontroverse über die Gefährlichkeit des Rollenspiels. Gary Alan Fine scheint zum Beispiel in den Achtzigern eine Art Ethnographie der Rollenspieler geschrieben zu haben.

    1. hallo andré!

      die „rollenspieltheorie“ ist ganz zweifelsfrei eine sehr, sehr feine sache – sie hat nur eine etwas andere intention als die akademische rollenspielforschung, wenngleich sie m.e. für die praxis „am spieltisch“ sehr viel hilfreicher ist.

      es geht mir gar nicht darum, das eine gegen das andere auf- oder abzuwerten, sondern einfach klar zu machen, wer was will und was wo zu erwarten ist, das ist alles.

      danke auch noch einmal für die literaturhinweise, unter rpg-studies.net findet man wirklich einige sehr sehr gute sachen!

      grüße, laura

      1. Dass du in Rollenspieltheorie einen Wert erkennst, habe ich schon verstanden. Ich wollte darauf hinaus, dass sie obwohl nicht aus dem akademischen Umfeld stammend einen Platz innerhalb der wissenschaftlichen Behandlung des Phänomens Rollenspiel einnehmen könnte. Damit will ich auch gar nicht sagen, dass sie notwendigerweise großen wissenschaftlichen Wert besitzt. Das kann ich nicht einschätzen.

        Bezüglich der Intention der akademischen Forschung, die hängt vom Feld ab. Aus der psychologischen Perspektive will man andere Aspekte des Rollenspiels verstehen, als wenn man zum Beispiel von der Soziologie oder Literaturwissenschaft herkommt. Integriert man aber diese verschiedenen Sichtweisen, sollte man zu einer wissenschaftlichen Beschreibung des Phänomens Rollenspiel mit seinen unterschiedlichen Facetten kommen. Rollenspieltheorie könnte sich hier einfügen, natürlich könnte sie sich auch als alternative aber unwissenschaftliche Sichtweise herausstellen. Ich kann das ebenfalls nicht entscheiden, aber im Zweifelsfall ist deine Expertise diesbezüglich sicherlich größer.

        Freut mich, wenn der Link weiterhilft. Und noch zu den Indiespielen, damit kein falscher Eindruck entsteht, die halte ich ohne Bezug auf Rollenspieltheorie für ein interessantes Untersuchungsobjekt, zumindestens so wie ich deine Arbeit verstanden habe.

        1. hallo andré!

          tja, da bleibt mir gar nicht mehr viel zu zu sagen: ich bin da völlig deiner meinung! der größte wert der „rollenspieltheorie“ für die akademisch ausgerichtete forschung besteht m.e. darin, dass sie ganz ganz viele impulse gegeben hat und gibt. fragestellungen, die spieler haben, d.h. die sich aus der intensiven auseinandersetzung mit dem hobby ergeben haben und deshalb nicht ignoriert werden dürfen, weil sie darstellen, was die spieler an ihrem spiel so besonders fasziniert oder was sie schätzen.

          die indie-spiele als „nische in der nische“ sind jetzt etwas, womit ich mich nicht direkt auseinandersetze; es geht mir wesentlich um die gestalterischen prozesse bei avatarfiguren hinsichtlich ihrer ästhetisch-künstlerischen qualität. natürlich sind diese eingebettet in das system, dem die charaktererschaffung folgt. aber WELCHES system dies nun ist, wäre immer im einzelfall abzuklären. ich untersuche die vorgelagerte fragestellung, inwiefern ÜBERHAUPT ästhetische gehalte in der charaktergestaltung an sich vorliegen. natürlich würde es später gelten, die ergebnisse auf konkrete spielsysteme anzuwenden – natürlich möglichst umfassend, um gemeinsamkeiten und unterschiede bei den systemen festzustellen. da bleibt aber die frage, ob ich das in einer einzigen diss leisten kann 😉 vielleicht ein thema für später?! in jedem fall aber ganz klar ein punkt, den man bedenken und mit formulieren muss.

      2. Hi Laura,

        auch auf die Gefahr hin, zu nerven, auch von mir nochmal einige Argumente dafür, warum die an der „best practice“ orientierte Rollenspieltheorie durchaus in die akademisch-analytische Beschäftigung mit dem Thema integriert werden kann (und sollte).

        1. „Die Rollenspieltheorie“ ist ja nicht nur anwendungsbezogen, sondern weist selbst analytische Aspekte aus. Die GNS-Theorie etwa unterscheidet in ihrer Fokussierung auf die „kreative Agenda“ nicht nur unterschiedliche Methoden, ein „gutes“ Rollenspiel aufzuziehen, sondern eben auch drei völlig unterschiedliche ästhetische Praktiken (Gamismus, Simulationismus und Narrativismus). Diese haben ja zum einen einen klassifikatorischen Wert (als *strukturell unterschiedliche* Gattungen des Rollenspiels), zum anderen operieren sie ja bereits auf kunstsoziologischem Terrain, da sie unterschiedliche Formen von sozialen Kontrakten beschreiben.
        Völlig unterschiedliche Fragestellungen liegen hier also gar nicht unbedingt vor.
        Ein weiteres Beispiel wäre die Einteilung in Spielertypen. Natürlich sagt diese nicht nur etwas darüber aus, wie man die Spieler am besten im Spiel adressiert, sondern birgt auch einen großen Reichtum gerade an soziologisch relevanten Beobachtungen, was Rollenspiel (in sozialer wie kreativer Hinsicht) für den einzelnen bedeutet – vom „Storyteller“, der künstlerische Verwirklichung sucht, bis hin zum „Casual Gamer“, der eben hauptsächlich Zeit mit seinen Freunden verbingen will.

        2. Die Rollenspieltheorie ist zudem ungeheuer wichtig, um die Veränderungen der Rollenspielszene in den letzten zehn Jahren überhaupt zu verstehen. Durch die Indy-Rollenspiele kommt es ja zu einer Veränderung gerade der sozialen Strukturen des Spiels, wenn man etwa an spielleiterlose Rollenspiele wie Fiasko oder Polaris denkt; oder an die ungewöhnliche Verteilung von Erzählrechten etwa bei Fate oder Burning Empires. Wenn man das unter den Tisch fallen lässt, verpasst man m.E. gerade die wesentlichen Entwicklungen dessen, was Rollenspiel soziologisch bedeutet.
        Zur Illustration: ich las einmal eine vor wenigen Jahren erschienene Dissertation zu phantastischer Literatur, in der unter anderem auch Rollenspiele behandelt wurden.* Die Verfasserin vertrat die kuriose These, dass sich nach 1990 im Rollenspielbereich nicht mehr viel getan hätte und die Szene eigentlich gar nicht mehr existiere. Als Anschauungsmaterial stütze sie sich ausschließlich auf Material aus den 80ern, hauptsächlich auf DSA. Das ist natürlich für eine vor wenigen Jahren geschriebene Arbeit ziemlich anachronistisch, denn zumindest die 1990er-Jahre haben ja eine Blüte der Rollenspielszene und ungeheuer viel klassisches Material hervorgebracht (WoD, Shadowrun etc.). Wenn man heute die enge Verzahnung von Rollenspieltheorie und Indy-Entwicklung außer acht lässt, begibt man sich m.E. auf ähnlich dünnes Eis.

        3. Was die Frage der mangelnden Fundierung angeht, so ist zu sagen, dass man in einem neuen akademischen Feld ohnehin auf neue Konzepte angewiesen ist. Es spricht also m.E. gar nichts dagegen, hier aus unterschiedlichsten Quellen zu schöpfen. Eine Anbindung an etablierte Begriffe ist ja in vielen Fällen auch problemlos möglich, etwa die von André angesprochene Analogie zwischen Simulationismus und klassischen Theorien des Realismus.
        Aufschlussreich ist diesbezüglich auch ein Seitenblick auf die akademischen „Game Studies“, die z.B. den Gegensatz zwischen „Gamistischen“ und „Narrativistischen“ Modellen schon seit Jahren auf Computerspiele anwenden. Die Rollenspielforschung wird m.E. sicher in Zukunft einen ähnlichen Weg beschreiben.

        4. Eine strikte Trennung zwischen analytischen und anwendungsorietietren Ansätzen halte ich übrigens auch disziplinsgeschichtlich für fragwürdig. Die Literaturwissenschaft etwa hat sich von Anbeginn an (mit der Poetik des Aristoteles bis hin zur modernen Narratologie) immer *beide* Fragen gestellt: wie funktioniert Literatur, und was ist gute Literatur, bzw. wie lässt sie sich fabrizieren.

        5. Eine weitere, nochmal ganz anders geartete Möglichkeit, die „Rollenspieltheorie“ akademisch einzubeziehen: als elementaren Aspekt des Forschungsobjekts selbst. Natürlich ist die Herstellung von anwendungsbezogener Rollenspieltheorie selbst eine interessante kreative Praxis, die eng mit künstlerischen Fragestellungen verbunden ist. In diesem Sinne stellt die Rollenspieltheorie eine wichtige Ressource über Motivationen, Zielvorstellungen und Arbeitsweisen der Spieler (inkl. Spielleiter) dar.

        Soweit ein paar Anregungen von mir,
        liebe Grüße,
        nave in vista

        *Das entsprechende Machwerk:
        Sonja Klimek: Paradoxes Erzählen. Die Metalepse in der phantastischen Literatur, Mentis-Verlag 2010

        1. hallo nave in vista!

          also, du hast natürlich in einigen punkten absolut recht – die „rollenspieltheorie“ zu ignorieren wäre ein großer fehler, wie ich ja auch in meiner antwort auf andré geschrieben habe, aus den verschiedensten gründen. ich werde ihr auch ein teilkapitel meiner arbeit widmen, schon allein um darzustellen, was bereits überhaupt geleistet wurde, und wie die „szene“ „funktioniert.“

          nur als untersuchungsinstrumente im akademischen sinne wird die „rollenspieltheorie“ mir nicht weiterhelfen, schon allein aus dem grund, dass sie nicht zitierfähig ist – d.h. zwar als als untersuchungsgegenstand, aber nicht selbst als analyseinstrument dienen kann, weil sie selbst keine wissenschaftlich stichhaltigen begründungen ihrer konzepte aufweist.

          tolle anregungen von euch allen 🙂

          1. Hi Laura,

            Du hast geschrieben:
            „…als untersuchungsinstrumente im akademischen sinne wird die “rollenspieltheorie” mir nicht weiterhelfen, schon allein aus dem grund, dass sie nicht zitierfähig ist…“

            Nun, ich würde sagen, es hängt davon ab, wie mutig Du bist 😉

            Google Scholar listet derzeit allein 42 Artikel auf, die den klassischen „rollenspieltheoretischen“ Text von Ron Edwards: „GNS and other matters of roleplaying theory“ zitieren. Dabei wird die GNS-Theorie durchaus auch als Analyseinstrument evaluiert und genutzt, etwa in:

            Jessica Hammer: Agency and Authority in „Roleplaying Texts“

            Eetu Mäkelä, Sampo Koistinen, Mikko Siukola and Sanni Turunen: The Process Model of Role-Playing

            Zitierfähig scheint mir die Rollenspieltheorie durchaus zu sein, wenn auch noch kein Allgemeingut … aber was ist dies schon in einem so neuen akademischen Feld?

            Liebe Grüße,
            nave in vista

          2. hallo nave in vista!

            mit „mutig“ hat das nichts zu tun – es geht einfach um die stichhaltigkeit und argumentative „belastbarkeit“ der texte in sich. texte, die keine primärliteratur sind, müssen nach akademischem standard referenzen aufweisen, um weiterverwertbar zu sein, sonst machst du dich einfach zu angreifbar.

            im angelsächsischen raum sind die formen etwas andere, das ist wahr – aber ich arbeite in deutschland und muss mich den hiesigen gepflogenheiten anpassen. als junger akademiker hat man es so schon schwer genug, wenn ich dann auch noch gegen die akademischen etikette verstoße, kann ich mich gleich abmelden 😉 das kannst du vielleicht machen, wenn du prof bist, aber nicht als kleines, nicht mal promoviertes licht!

            allerdings muss ich sagen, dass ich es richtig finde, gewisse standards an texte anzulegen, die als wissenschaftlich gelten sollen – gerade im geisteswissenschaftlichen feld hat man schon mit genug variablen zu tun, die einen in schwierigkeiten bringen können, da muss man sich nicht auch noch selbst arbeit beschaffen 😉 und es geht ja auch um „gesicherten“ erkenntnisgewinn…von daher würde ich keine texte als stütze meiner argumentation verwenden, die ich nicht als verlässlich einordnen kann. und das könnte ich eben erst, wenn ich jeden text der „rollenspieltheorie“ selbst geprüft hätte – aber da kann ich auch gleich alles selber schreiben, und einfach „sichere“ quellen verwenden 😀

  5. Zwei weitere Literaturtips, die Laura vermutlich schon kennt, die aber für jeden hier interessant sein dürften:

    Eine letztes Jahr erschienene Dissertation zum Thema aus der Kunstpädagogik:
    Gero Pappe: P&P-Rollenspiel.Der kollektive Zugang zu utopischen Weltentwürfen und individuellen Phantasiekonstrukten, Berlin 2011

    Die (meines Wissens einzige) internationale Fachzeitschrift speziell zur akademischen Beschäftigung mit RPGs:
    http://www.journalofroleplaying.org/

    1. hallo naveinvista!

      vielen dank für die literaturhinweise 🙂 die müssten natürlich theoretisch AUCH unter die TOP 5 . pappe habe ich bereits aufgenommen, aber noch nicht intensiv „durchgeackert“, deshalb wollte ich da nicht vorgreifen. sicherlich ist da aber einiges interessantes drin!

      und das IJRPG ist natürlich unter den zeitschriften m.w.n. quasi die einzige adresse am platz…

      grüße! laura

  6. Was mir noch nicht klar geworden ist, ob kreative Prozesse immer Kunst ergeben bzw. künstlerische Praxis. Ron hat ja eigentlich ein gutes Beispiel genannt, nämlivh Regeldesign. Da können ja sehr produktive Prozesse dahinterstecken, aber man käme nicht auf die Idee, es Kunst zu nennen (oder künstlerische Praxis). Gerade bei Charakterbeschreibung und sagen wir z.B. diesen 20 Fragen zu Deinem Charakter, da kommt doch in 80-90 % etwas schnarchiges bzw. etwas schon vielfach Gelesenenes raus. Wobei mich tatsächlich interessieren würde, ob Du solche Bögen schon ausgewertet hat bzw. Deine Interviews ein ähnliches Format haben (und zu ähnlichem ergebnis führt). Also, ich fasse zusammen: Wo liegt den (aus Sicht deiner disziplin) der Unterschied zwischen kunstnahem Tätigkeiten und kreativen Prozessen und fortführend wie werden aus kreativen Prozessen kunstnae Tätigkeiten?

    Ansonsten, nachdem ich nun durchgehört habe, muss ich sagen, dass mir die Folge gut gefallen hat, ein durchaus interessanter Einblick.

    1. hallo greifenklaue!

      danke für dein großes interesse, das freut mich riesig 🙂 also, zu deinen fragen:

      1) Wobei mich tatsächlich interessieren würde, ob Du solche Bögen schon ausgewertet hat bzw. Deine Interviews ein ähnliches Format haben (und zu ähnlichem ergebnis führt).

      nein. bisher habe ich mit narrativen interviews gearbeitet, die sich nicht auf die „dokumentation“ von chars stützten, sondern auf einen von mir entwickelten fragebogen, der die beziehung von spieler und charakter thematisiert. figurenbiographien etc. spielen dabei natürlich eine große rolle, in diesem sinne beziehen sie sich natürlich auch auf alle dokumente, die ein spieler von seinem char anlegt. aber ich habe diese noch nicht losgelöst von ihrer interpretation durch den spieler selbst bearbeitet. narrative interviews sind ja instrumente der qualitativen sozialforschung, die vor allem mit der persönlichen sichtweise der befragten arbeitet.

      ich überlege noch, inwieweit ich solche dokumente mit einbringen kann, auch richtige „intime-dokumente“ wie z.b. helden-tagebücher oder so, was ich aus einigen gruppen kenne und SEHR spannend finde – und die sicher auch sehr ergiebig sind!

      2) Wo liegt den (aus Sicht deiner disziplin) der Unterschied zwischen kunstnahem Tätigkeiten und kreativen Prozessen und fortführend wie werden aus kreativen Prozessen kunstnae Tätigkeiten?

      „kreativ“ ist ja erstmal ein begriff, der nicht auf eine bespimmte sparte von handlungen festgelegt ist und sich auf sehr viele menschliche tätigkeiten anwenden lassen kann, nicht nur auf künstlerische tätigkeiten. man kann eine „kreative“ lösung für ein mechanisches problem beim auto-reparieren finden, ohne, dass man auf die idee käme, das als „künstlerisch“ zu bezeichnen.

      ergo: künstlerisches tun beinhaltet immer kreative prozesse, aber kreative prozesse sind nicht immer künstlerisches tun.

      etwas ist „künstlerisch“ wenn es einige grundlegende merkmale ästhetischer produktion aufweist, auf die sich die kunstwissenschaft verständigt hat. natürlich weichen die definitionen z.t. voneinander ab, aber einige sind schon verbindlich – z.b. das aktive gestalten und formen von materialien zu einem neuen objekt, das „etwas aussagen soll“, ein thema gestaltet. d.h. ein „kunstwerk“. kunst wird ja oft gedeutet als eine kommunikationsform. solche gestalterischen tätigkeiten, die einen „tieferen sinn“ für den schöpfer haben, gelten als kunstnah.
      um einen gegenstand also in diesem sinne zu interpretieren, würde man versuchen, möglichst viele strukturelemente von ästhetischer produktion daran nachzuweisen.

      wobei einem klar sein muss: das etwas als „kunst“ wahrgenommen wird, ist das ergebnis eines superkomplexen gesellschaftlichen definitionsprozesses, der oft völlig widersprüchlich ist. deshalb nutze ich den begriff „kunstnah“ oder „künstlerisch“, weil er nicht impliziert „wird als kunst anerkannt.“ denn sonst kann man jeden diskurs über künstlerische tätigkeiten im rpg abwürgen mit „ist ja keine anerkannte kunstform.“ so einfach will ich es den skeptikern aber nicht machen ^^

      lieben gruß! laura

  7. Danke für die ausführliche Antwort. Bzgl. den Fazit bzgl. kreativ / künstlerisch dachte ich mir eigentlich schon ähnliches (das eine als Voraussetzung des anderen) – und bin gespannt, was da bei dir letztlich rauskommt. 😉

  8. 1.) Über eine Rollenspielrunde als „Kunstwerk“ überlege ich schon seid Jahren. Allerdings ist das ein wenig schwierig von den Rahmenbedingungen her ein wenig schwierig durchzuziehen. Auch wenn es durchaus interessant in der Zuordnung der Gattung her wäre. Wäre vermutlich eine amüsante Provokation für die Performance-Künstler. (Die Probleme mit dem Kunst-Diplom. ^^)

    2.) Ausstellung mit Kinderkunst: Das ist Heutzutage nicht mehr so wirklich in der Praxis vertreten. Zu Zeiten der Weimarer-Republik und vor dem 1. Weltkrieg mit Alfred Lichtwark gab es allerdings durchaus eine entsprechende Diskussion und dementsprechend Wanderausstellungen, die vermutlich auch als Kunst rezipiert wurden.

  9. Danke für diesen aufschlussreichen Podcast. Besonders interessant war die Diskussion um die Phantastik und die einzelnen Subgenres. Besonders einem Genre wie der Anti-Utopie beziehungsweise Dystopie kann man kaum Eskapismus vorwerfen, sind doch gerade Werke wie „Brave New World“ von Aldous Huxley ein Mittel, damit sich die Leser mit der Realität beschäftigen und sich aktiv für eine bessere Welt einsetzen. Die These, dass Rollenspiele künstlerische Züge haben, wenn auch in kleinem Rahmen, kann ich gut verstehen. Schließlich werden auch hier Figuren und Geschichten erschaffen und dies ist auch ein künstlerischer Prozess, auch wenn es nicht unbedingt zum klassischen Kunstbegriff passt.

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